Deutschland steckt mitten in einem politischen Ausnahmezustand. Die jüngsten Umfragen zeigen ein Bild, das vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre: Die AfD liegt mit 25 Prozent gleichauf mit CDU/CSU und damit auf Augenhöhe mit der stärksten politischen Kraft der Republik. Noch dramatischer ist die Situation für die SPD: Mit nur 14 Prozent ist die Kanzlerpartei weit abgeschlagen – und droht, im Konzert der großen Volksparteien endgültig zur Randfigur zu verkommen.
Doch anstatt eine schonungslose Analyse zu liefern, warum die Sozialdemokraten in einem atemberaubenden Tempo an Rückhalt verlieren, präsentiert Parteichef Lars Klingbeil eine Erklärung, die so simpel klingt, dass sie fast schon hilflos wirkt: Schuld sei die „schlechte Laune“ im Land. Die AfD, so Klingbeil, „reite“ diese Stimmung, profitiere von Polarisierung und Unzufriedenheit. Ein Satz, der in seiner Schlichtheit entweder genial oder brandgefährlich ist – je nachdem, wie man ihn liest.
Denn was bedeutet das eigentlich? Dass die SPD sich selbst und die gesamte Gesellschaft nur besser fühlen muss, damit die AfD verschwindet? Dass man mit ein bisschen Optimismus und weniger „Kritik-Modus“ 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler wieder in den Schoß der Demokratie zurückholen kann? Es klingt wie eine Mischung aus Psychologie-Seminar und politischem Notruf – aber sicher nicht wie eine durchdachte Strategie einer Regierungspartei, die das Land führt.
Natürlich ist Klingbeils Hinweis nicht völlig aus der Luft gegriffen. Deutschland diskutiert seit Jahren über Krisen: Pandemie, Inflation, Energiepreise, Migration, Krieg in der Ukraine, Klimakrise. Wer Nachrichten einschaltet, bekommt fast ausschließlich Schlagzeilen, die Bedrohungen, Unsicherheit oder Versagen signalisieren. In diesem Klima gedeiht eine Protestpartei wie die AfD besonders gut. Doch reicht es, diese Entwicklung auf eine „schlechte Laune“ zu reduzieren?
Das eigentliche Problem der SPD liegt tiefer. Die Partei wirkt erschöpft, zerstritten und unfähig, klare Botschaften zu setzen. Olaf Scholz ist als Kanzler kaum sichtbar, seine Regierungspartner streiten öffentlich, und viele Menschen haben das Gefühl, dass die Politik nur noch auf Sicht fährt. Während die Ampel über Heizungspläne, Haushaltssperren und Personalquerelen stolpert, gelingt es der AfD, sich als einzige „Alternative“ zu inszenieren – selbst wenn ihre Antworten auf die großen Fragen oft brandgefährlich oder schlicht unrealistisch sind.
Hier offenbart sich ein Paradox: Die AfD profitiert nicht nur von schlechter Stimmung, sie profitiert auch von einer Regierung, die es nicht schafft, Stärke und Zuversicht zu vermitteln. Klingbeil hat also recht, wenn er sagt, dass weniger Streit und mehr Geschlossenheit helfen würden. Aber er greift zu kurz, wenn er glaubt, dass die Lösung vor allem darin besteht, die Gesellschaft solle sich selbst „freundlicher“ behandeln.
Denn genau das könnte als arrogant wahrgenommen werden: Als würde die SPD ihren eigenen Wählern unterschwellig sagen, dass deren Sorgen gar nicht real sind – sondern nur Ausdruck einer „Laune“. Für Millionen Menschen sind die Themen aber handfest: steigende Mieten, unsichere Jobs, explodierende Strompreise, Sorge vor unkontrollierter Migration. Wer das alles auf schlechte Stimmung reduziert, riskiert, noch mehr Vertrauen zu verlieren.
Und genau das spiegelt sich in den Zahlen wider. 14 Prozent für die SPD – das ist ein politisches Erdbeben. Die Partei, die einst für soziale Gerechtigkeit, Arbeitnehmerrechte und Zukunftsversprechen stand, wird zunehmend zur Randnotiz. Die Union kann von diesem Niedergang nur bedingt profitieren: Auch sie stagniert bei 25 Prozent, weit entfernt von den Zeiten, in denen CDU/CSU mühelos die 40-Prozent-Marke knackten. Die Grünen liegen bei zwölf, die Linke bei elf Prozent – beide unter Druck, beide ohne klares Wachstumspotenzial. FDP und BSW verharren im Nirgendwo, beide unter der magischen Fünf-Prozent-Hürde.
So entsteht eine politische Landschaft, in der die AfD plötzlich mehr ist als eine Protestpartei. Sie ist gleichauf mit den stärksten Kräften, sie ist rechnerisch koalitionsfähig – und sie ist für viele Menschen längst mehr als nur ein Ventil für Frust. Sie ist eine reale Machtoption geworden, die von Woche zu Woche größer erscheint.
Das Problem für Klingbeil: Mit moralischen Appellen allein wird er diese Entwicklung nicht stoppen. Wer den Erfolg der AfD wirklich brechen will, muss mehr bieten als den Hinweis, dass man „aus dem Alles-ist-kritisch-Modus“ herauskommen müsse. Es braucht greifbare Lösungen, klare Erfolge, sichtbare Verbesserungen im Alltag der Menschen. Solange diese fehlen, bleibt die AfD das Sprachrohr für Unzufriedenheit – und sei sie noch so destruktiv.
Vielleicht ist Klingbeils Aussage dennoch ein Weckruf. Denn in einem Punkt hat er recht: Der Dauerpessimismus in Deutschland hat System. Wer hierzulande über Politik spricht, spricht fast immer über Probleme, selten über Chancen. Der Blick nach vorn ist verstellt von der Angst, etwas falsch zu machen. Doch statt diesen Pessimismus aktiv zu bekämpfen, wirkt die Regierung oft wie ein Spiegelbild davon – zögerlich, ängstlich, selbst in der Defensive.
Die eigentliche Frage lautet also: Wird die SPD in der Lage sein, ihre eigene Rolle als Regierungspartei neu zu definieren? Oder wird sie weiter in Umfragen abstürzen, während die AfD sich als einzige kraftvolle Stimme inszeniert?
Eines ist klar: Wenn sich an der jetzigen Dynamik nichts ändert, könnte die nächste Bundestagswahl ein politisches Beben auslösen, das die Republik nachhaltig verändert. Und dann reicht kein Appell mehr an „bessere Laune“. Dann entscheidet die Realität – und sie ist für die SPD im Moment gnadenlos.