Deutschland im Zorn: Wie der Hass auf Alexander Gauland zeigt, dass wir längst die Grenze zur Selbstzerstörung überschritten haben

Berlin. – Es klingt wie ein makabrer Witz der Geschichte: Ausgerechnet Alexander Gauland, der Mann, der einst selbst zum Symbol der politischen Spaltung in Deutschland wurde, steht nun selbst im Zentrum eines Hasses, der ihn buchstäblich heimsucht. Ein 84-jähriger, gebrechlicher Mann, zurückgezogen in einem Haus in Brandenburg, wird zur Zielscheibe von Farbe, Steinen, Drohbriefen – und einer Gesellschaft, die offenbar vergessen hat, was Demokratie bedeutet.

Es wäre leicht, zu sagen: „Er hat es provoziert.“ Aber wäre das nicht genau die Haltung, die uns dorthin geführt hat, wo wir heute stehen?
Denn in Wahrheit geht es längst nicht mehr um Gauland. Es geht um uns alle.

Der neue deutsche Hass

Was einst ein Streit der Ideen war, ist heute ein Krieg der Emotionen. Politik ist zur Religion geworden, Parteien zu Sekten, und wer das falsche Glaubensbekenntnis ablegt, wird mit

öffentlicher Ächtung bestraft.
Gauland, der sich einst selbst als Kämpfer gegen den „linken Mainstream“ inszenierte, erlebt nun, wie sich die Spirale des Hasses zurückdreht. Nur dass sie diesmal ihn trifft – mit der Wucht einer Gesellschaft, die sich in moralischer Selbstgerechtigkeit selbst zerfleischt.

Unbekannte beschmieren seine Hauswand, beschädigen sein Auto, lassen Drohbriefe zurück. Die Polizei ermittelt, doch die Täter bleiben unsichtbar – wie die Fratze des Hasses, die sich hinter Anonymität und Empörung versteckt.
Seine Frau verlässt das Haus kaum noch allein. Und während Sicherheitsbeamte Wache stehen, bleibt die eigentliche Gefahr längst unkontrollierbar: der Verlust jeder Grenze zwischen politischem Widerspruch und persönlicher Vernichtung.

Ein Parteifreund sagt: „Wenn ein 84-Jähriger Angst haben muss, in seinem eigenen Land sicher zu leben, ist etwas gewaltig schiefgelaufen.“
Ja – aber was genau?

Eine Demokratie im Delirium

Deutschland hat den Dialog verlernt.
Was früher Streit im Bundestag war, findet heute auf der Straße statt. Zwischen Likes und Lynchstimmung, zwischen Kommentarspalten und Steinschlägen.
Die Mitte, das Rückgrat einer jeden Demokratie, bricht leise – während Extreme toben, triumphieren und behaupten, sie sprächen für das „wahre Volk“.

Politikwissenschaftler nennen es eine „Eskalationsspirale“.
Ein Euphemismus für eine Gesellschaft, die sich selbst anzündet.
Wenn nur noch Empörung zählt, wenn jedes Wort als Waffe gilt, wenn das Argument durch Lautstärke ersetzt wird – dann ist der Boden unter der Demokratie längst morsch.

Konfliktforscher Thomas Wirth sagt: „Wenn Menschen glauben, dass nur noch Extreme gehört werden, verlieren sie das Vertrauen in den demokratischen Dialog.“
Man könnte hinzufügen: Dann verlieren sie auch den Respekt – und mit ihm die Menschlichkeit.

Die Ironie des Symbols

Alexander Gauland war nie ein Mann der leisen Töne.
Er hat polarisiert, provoziert, Grenzen getestet. Doch jetzt steht er als Mahnmal einer Entwicklung, die er selbst mit ausgelöst, aber längst nicht mehr kontrolliert hat.
Die Ironie ist bitter: Der Architekt der Spaltung wird zum Opfer derselben.

In sozialen Netzwerken tobt der Krieg weiter.
Die einen feiern die Attacken als „gerechte Strafe“. Die anderen sehen darin den Beweis, dass „linke Gewalt“ längst salonfähig geworden sei. Dazwischen: nichts. Kein Raum für Nachdenken, keine Grautöne. Nur moralische Schützengräben, in denen jede Seite glaubt, sie verteidige die Wahrheit.

Und irgendwo in Brandenburg sitzt ein alter Mann, der den Preis für unsere kollektive Radikalität zahlt.

Zwischen Empörung und Erinnerung

Was passiert gerade in diesem Land, das einst schwor: „Nie wieder“?
Die Gewalt gegen Politiker – egal welcher Partei – ist keine Randnotiz. Sie ist ein Alarmsignal.
Die Plakate, die brennen, die Büros, die zerstört werden, die Drohungen, die anonym in Briefkästen landen – sie alle zeigen: Der Hass hat längst ein Zuhause gefunden.

Die Polizei warnt vor Radikalisierung – links wie rechts.
Doch wer hinhört, merkt: Diese Warnung verhallt in einem Chor aus Rechtfertigungen.
Jeder Angriff wird erklärt, relativiert, instrumentalisiert. „Aber er hat doch…“ – ein Satz, der moralische Verantwortung ersetzt.

Ein Sicherheitsbeamter sagt: „Was früher Worte waren, wird heute schnell zur Tat.“
Das stimmt. Und was früher Anstand war, ist heute Schwäche.

Der bequeme Zynismus

Natürlich kann man sagen: Gauland hat polarisiert, also muss er mit Konsequenzen rechnen.
Aber genau dieser Gedanke ist das Symptom der Krankheit, nicht ihre Lösung.
Denn wer Gewalt rechtfertigt – egal gegen wen – erklärt das Ende jeder Zivilisation.
Die Demokratie stirbt nicht an einem großen Schlag, sondern an tausend kleinen Rechtfertigungen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht von einem „inakzeptablen Angriff auf das demokratische Miteinander“.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mahnt: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Angst zur neuen Normalität wird.“
Doch Worte sind billig, wenn der Hass längst Alltag ist.

Man erinnert sich an die 1970er Jahre, an Bomben, an Angst, an die RAF.
Damals begann es mit Ideologien.
Heute beginnt es mit Tweets.

Das Flüstern eines Alten

In einem kurzen Interview sagte Gauland:
„Ich weiß, dass viele mich nicht mögen. Aber Hass darf kein Argument sein. Wenn wir den verlieren, verlieren wir unser Land.“

Es sind keine Worte der Reue, aber Worte der Vernunft.
Vielleicht sind sie ehrlicher, als viele ihm zutrauen.
Ein Mann, der sein ganzes Leben kämpfte – nun gegen etwas, das größer ist als Politik: die Verrohung.

Vielleicht ist das die letzte Ironie dieses Zeitalters:
Dass ausgerechnet Alexander Gauland uns daran erinnern muss, was Demokratie bedeutet.

Und wir?

Vielleicht sollten wir uns fragen, was aus einem Land geworden ist, in dem ein alter Mann in seinem eigenen Haus Schutz braucht – nicht vor Terroristen, sondern vor Mitbürgern.
Ein Land, in dem Empörung wichtiger ist als Einsicht, und in dem Moral zur Waffe geworden ist.

Deutschland, das Land der Dichter, Denker und Debatten – verwandelt sich in ein Land der Drohungen, Diffamierungen und Dauerempörung.
Und während wir darüber streiten, wer „schuld“ ist, vergessen wir, dass wir alle es sind.

Denn Hass hat keine Partei.
Er hat nur eine Richtung: nach unten.
Und dorthin steuern wir – schneller, als uns lieb sein kann.